Bernd Ikemann – Punkt!
Die Gestaltung von Bernd Ikemanns Malerei beruht zum einen auf der Farbe als plastisches Material und zum anderen auf der Farbe als immaterielles Lichtphänomen. Vier unterschiedliche Werke des Künstlers geben im Köln-Sürther Kunstraum Fuhrwerkswaage – jedes für sich auf einer weißen Wand im Raumgeviert präsentiert – ein anschauliches Bild von den eigenartigen Methoden seines Malens.
An den Schmalseiten des Raumes erscheinen aus der Entfernung je eine rote und eine blaue hochrechteckige Farbfläche. Bei näherer Betrachtung erweisen sich beide als feste und pastose Farbhäute, die sich eng an die Wandflächen schmiegen. Pinselspuren in ihrer Farbmasse berichten, dass die ursprünglich auf horizontaler Arbeitsfläche ausgegossene Farbe von Künslerhand in eine rechteckige Form gelenkt wurde und mit unregelmäßigen Rändern erstarrte. In dieser Betonung des Farbstofflichen erkennt Ikemann etwas "Gewandartiges".
Entsprechend seiner Bildidee geordnet, stanzt der Künstler sodann aus den trockenen Farbhäuten identisch kreisrunde Löcher aus – ähnlich große, wie ein Bürolocher sie erzeugt - und füllt diese mit exakt passenden, aus einer andersfarbigen Farbfläche ausgestanzten Punkten wieder aus. So entstanden die beiden blauen und roten Intarsienarbeiten gleichsam in einer "trockenen Malerei". Das rotmonochrome Gewand ist mit eingesetzten komplementärfarbenen Kreuzformen verziert, das blaue in offener Ordnung mit horizontalen weißen Punkten, darunter zur belebenden Irritation der Wahrnehmung drei gelbe zu entdecken sind. Die Konstellation der Punkte auf dem blauen Farbfeld kann aber ebenso als dynamisch verlaufende Diagonalen wahrgenommen werden. Eben, weil der Mensch zur individuellen Betrachtung neigt, empfiehlt sich um so mehr eine aufmerksame und kontemplative Betrachtung von Ikemanns farb- und formreduzierter Malerei, wenn man deren aspektreiche und mehrdimensionale Wirkungsweisen sinnlich erleben will.
Wie der Künstler sagt, stehen dies Farbarbeiten den monochromfarbenen, roten oder goldenen, dabei oft ornamental strukturierten Farbflächen mittelalterlicher Tafelbilder ästhetisch nahe. Sie dürfen in unserer Vorstellung als Sinnbilder eines göttlichen, eines kosmisch-metaphysischen oder, wie Kasimir Malewitsch es mit der weißen Fläche lehrte, eines gegenstandslosen Raumes verstanden werden, in dem sich nicht nur unsere Blicke, sondern vor allem unsere Gedanken versenken können. Die gewählte Farbe nimmt dabei einen erheblichen Einfluß auf unsere Sinne; gilt doch in der Ikonenmalerei das Blau als Farbe des Geistes und rot als Metapher des Schönen.
Ikemanns erwähnte Werke entfalten sich ästhetisch zwischen Objekt und Bild, zwischen fließender Farbform vor weißem Grund und forminterner malerischer Farbraumimagination. Es sind gegenstandslose Bilder, farb- und formminimalistische Ikonen, die, aus der Distanz gesehen, wie wolkige Farbkuben auf dem weißen Grund zu schweben scheinen und bei näherer Betrachtung den Blick auf die immaterielle Magie der rythmischen Formkonstellationen im Farbraum ziehen. Schon der nächste Wimperschlag vermag die empfundenen Imaginationen wieder auf eine realistischere Wahrnehmungsebene zu führen. Aber für wie lange? Dieses kreative, den aufmerksamen Betrachter beschäftigende Wechsekspiel von ästhetischem Sein und Schein setzt sich mit anderen Mitteln in folgenden zwei Wandarbeiten von Bernd Ikemann fort. Der Künstler gestaltet sie mittels unzähliger, metallen glänzender Reißbrettstifte, wie sie in Myriaden weltweit fabriziert werden, und spricht dennoch von Malerei. Wir sehen mosaikgleiche Kompositionen aus in die Wand gesteckten Metallstiften, in deren genormten und golden glänzenden Rundköpfen das Licht und die farbige Umwelt vor dem Bild wiederscheinen. Die Lichtreflexion verwandelt das triviale Massenprodukt in etwas edel Wirkendes, nähert es ästhetisch den Werten des erwähnten Goldgrundes der Ikonen oder byzantinischen Mosaike, welcher, wie es Wolfgang Schöne in seiner Schrift "Über das Licht in der Malerei" (1954) beschreibt, ein aus dem Innern des Bildes kommendes "Eigenlicht" evoziert, das metaphysisch empfunden werden kann.
Nach einem auf dem Boden liegend mit Reißbrettstiften gelochten Entwurfspapier – ein klassischer "Karton" - schuf Bernd Ikemann im Kunstraum Fuhrwerkswaage auf der weißen Wand maßstabsgetreu ein aus zahlreichen dieser "Goldpunkte" gestecktes, 150 cm im Durchmesser messendes Medaillon, das ein frei erfundenes Frauenbildnis zeigt. Dieses pointillistisches bzw. gerasterte Rundbild, der berühmte Tondo der Renaissance, erhält im ästhetischen Zusammenklang mit den golden scheinenden Reißbrettstiften eine sakrale Komponente.
Dem Medaillonbildnis gegenüber gestaltete Bernd Ikemann hingegen ein ungegenstänliches Ornament aus solchen Reißbrettstiften, die in Dreiergruppen auf der weißen Wandfläche angeordnet sind. Die Glsichmäßigkeit ihrer Abstände bewirkt zunächst den Eindruck von etwas Tapetenmusterartigem, das bei genaueren Hinsehen aber einige Überraschungen bietet. Wie bereits am "blauen Gewand" zu beobachten war, so können auch in diesem großen Ornament die gereihten Goldpunktgruppierungen sowohl waagerecht als auch links- oder rechtsläufig diagonal wahrgenommen werden. Und akkurat eingeplante Lücken in diesem Raster – die noch beim Tondo vermieden wurden, um keine falsche Perspektiven in das pointillistische Mosaik geraten zu lassen – helfen dem trägen Auge in der Dichte und Gleichmäßigkeit der Metallpunkte ein Andreaskreuz zu erkennen. Und, wie bereits gesagt, der nächste Augenblick, die folgende Bewegung vor dem Wandbild, kann das Gesehene wider verschwinden lassen und eine andere Sichtweise Einunddesselben bewirken. Ja, die Bewegung des Betrachters vor dieser Art von Nagelmosaik ist sogar notwendig, will man die eigenartige Gestaltungsweise dieser Bilder in allen ihren Facetten erleben.
Bei näherer Betrachtung und bei seitlicher Sicht wird uns das ästhetische Geheimnis dieser pointillistischen Komposition offenbar. Die Reißbrettstifte sind nicht tief in die Wand eingedrückt, sondern ragen hervor und werfen mit ihren Rundköpfen und dünnen Dornen zarte rythmische Schatten auf die weiße Wandfläche. Es entfalltet sich also eine kaum wahrnehmbare farbschattige Untermalung zu den golden glänzenden Rundköpfen der Metallstifte sowie eine dem Augensinn nur andeutungsweise bewußte Unschlüssigkeit zwischen Wandfläche und Raumempfindung. Ein ambivalenter Gesamteindruck der Komposition entsteht, der in Verbindung mit der Lichtreflexion auf den Reißbrettstiften eine Entmaterialisierung dieser "Malerei" evozuiert. Ähnlich, wie es bereits die von der Ikonenmalerei inspirierten russischen Maler Kasimir Malewitsch und Wassily Kandinsky als imaginative Loslösung vom Materiellen und seinen Beschränkungen anstrebten, so bringt auch Bernd Ikemann das "Bild" auf seinen Reißbrettstiften vor dem Bildträger, der Wand, in Erscheinung. Ebenso wie Kandinsky 1912 in seiner Schrift "Über das Geistige in der Kunst" es formulierte, so kommt es auch Ikemann darauf an, "das Bild auf eine ideelle Fläche zu bringen, die sich dadurch vor der materiellen Fläche (...) bilden muß" (Kandinsky). Es löst sich also der ästhetische Schein vom Materiellen, eine metaphysische Dimension, wer will: eine transzendentale Komponente kommt ins Spiel. So stellen die metallenen Reißbrettstifte wohl die "Zeichnung" dieser Wandarbeiten, gestalterisch sind sie jedoch erheblich als Projektionsflächen der lichten Welt vor dem Bilde wirksam, die sich auf ihnen immateriell abmalt und fast einer Luftspiegelung, einer Fata Morgana gleicht, die verblasst, wenn das Licht erlischt.
Gerhard Kolberg
(Eröffnungsrede zur Ausstellung Kölnquartett 03, Kunstraum Fuhrwerkswaage Köln, 2003)