Bernd Ikemann – Weiß für Pulheim

 

Bernd Ikemann betreibt eine Maler mit zwei Komponenten der Farbe. Mal läßt er ihrer immateriellen Leuchtkraft den Vorrang, dann wieder liegt er großen Wert auf die Ästhetik ihrer spezifischen Materialität. Physikalisch kommen aber stets – nur konzeptionell unterschiedlich gewichtet – beide Komponenten gestalterisch zur Wirkung.

 

In Ikemanns mosaikartigen Wanddekorationen aus Hunderten blanker Reißbrettstifte reflektiert das Licht allein auf den Metallpunkten und löst das golden aufleuchtende Bild von der Wand und dem profanen Material. Hingegen lassen des Künstlers am Boden ausgegossene Acrylfarbhäute, die er, wenn sie getrocknet an der Wand hängen, als „Gewänder“ bezeichnet, das Plastische des Farbstoffs sowie die pastose Pinselstruktur der Bearbeitung ästhetisch wirksam werden.

 

In erwähnte Farbhäute stanzt der Maler identisch große Löcher und füllt diese intarsienartig mit gleichgroßen Farbpunkten anderer Couleur aus. In der Wahrnehmung pendeln diese Kunstwerke zwischen Objekt und gepunkteter Farbfläche. Inspirationsquellen dafür waren Ikemann die abstrakt-monochromen, goldenen, roten oder blauen Hintergrundflächen gotischer Tafelbilder, die, gemalt oder gepunzt, mit Kreuz- oder Sternenmuster übersät sind.

 

Sie gelten, ebenso wie die byzantinischen Goldmosaike, als einer transzendentalen Dimension bzw. eines sakralen Lichtraums.

 

Haben wir solche kunsthistorischen Vorbilder, die ja formaler Ausdruck eines geistlichen Weltbildes oder einer auf Geistigkeit ausgerichteten Philosophie sind, zur Kenntnis genommen, dann verstehen wir umso mehr Bernd Ikemanns Kunstwerk im Pulheimer Rathaus. Auch in „Weiß für Pulheim“ tritt die Einfachheit der künstlerischen Mittel sowie die sinnliche Irritation: was ist real, was Illusion, was ist Sein, was Schein, in Kraft. Bei der wahrnehmungspsychologischen Auflösung dieses Rätsels hilft uns die kreative Ironie, denn oft ist es ja die Einfachheit, die man mißversteht, und weniger die plaudernde Fülle.

 

Das „Weiß für Pulheim“ sehen wir einerseits aus der Distanz wie Quader in der roten Backsteinwand. Doch nein: bei näherer Betrachtung erweisen sie sich als weiche Acrylrechtecke, die mit doppelseitigem Klebeband auf die Ziegelmauer aufgebracht, ja aufgedrückt sind. Denn im Streiflicht hebt sich deutlich die Struktur der Backsteine dahinter ab; als ein feines Relief in der weißen Farbhaut, deren poröse Eigenstruktur dem handgeschöpften Büttenpapiers gleicht. Diese zeahlreichen, größeren und kleineren Felder erinnern Bernd Ikemann an kirchliche Bitttafeln, mich aber auch an sogenannte „Spolien“, antike Architekturfragmente, die man u.a. in sakrale Neubauten des Mittelalters dekorativ einbezog.

 

Das Weiß – Sinnbild der Reinheit und Unschuld -, das Ikemann der Stadt Pulheim widmete, reicht materialästhetisch von der künstlichen Acrylfarbe bis zum Naturprodukt Butttermilch. Der Künstler kaufte letztere eingepackt im Supermarkt, wo man auch Reißzwecken erwerben kann.

 

Milch ist als Malmittel nicht neu. So wurden Fresken und Tafelbilder des Mittelalters noch lange nach Erfindung der Ölfarbmalerei im 15. Jahrhundert bekanntlich mit Kaseinfarben gemalt.

 

Bernd Ikemann hat die Fensterscheiben im Pulheimer Rathaus von innen mit Buttermilch aus der Tüte – ähnlich wie mit Farbe aus der Tube – bemalt, genauer gesagt: er hat mit der Farbrolle eine monochrome Glasmalerei geschaffen, die ironisch den populären Begriff des Milchglases impliziert. Es ergibt sich bei ihrer Betrachtung eine Irritation der Wahrnehmung, weil der Künstler mit dem Realen und dem Scheinbaren sein Spiel getrieben hat. In der Optik ignoriert der Künstler nämlich kühn die geometrische Fläche der Fensterkonstruktionen sowie die Fakten der Erkerarchitektur, indem er beide mit seiner Buttermilchbemalung der Fensterscheiben räumlich in Frage stellt. Architektonische Winkel werden in der geometrischen Glasmalerei durch illusionistische Horizontal- und Diagonalfluchtungen sinnlich konterkariert. Real-Räumliches wird unbekümmert in den Scheinraum der Scheibenflächen hinein erweitert.

 

Ikemanns Buttermilch-Glasmalerei interpretiert das Wechselspiel von Raum und Fernsterkonstruktionen variationsreich. Zum Ersten sind es die erwähnten milchigen Horizontalflächen, die stur Scheinräumlichkeit suggeriere. Zum Zweiten sind es die vertikalen Buttermilchbänder, gestaffelt in verschiedenen Breiten, die eine rhythmische Abfolge von Ausblick und diaphaner Weißfläche bilden. Und zum Dritten malte Ikemann, bereits spontaner, mit der kleinen Farbrolle ein buttermilchiges Fallgitter auf eine Scheibe, mit Ausblick auf den Torhof, der ihn an eine mittelalterliche Burgarchitektur erinnert.

 

Und in der benachbarten Cafeteria wandelte der Künstler die streng geometrische Flächenmalerei vollends zum Gestischen. Er ließ der Buttermilch, indem er sie mit einer spritze am oberen Scheibenrand auftrug, der Schwerkraft gehorchend, sichtlichen freien Lauf. Das Color dripping und diverse Schüttbilder kommen dem kunsthistorisch Informierten in den Sinn. Der profaner Schauende sieht aber, was es ist: Wohnliche Scheibengardinen, durch die man einen verstohlenen Blick werfen möchte. Auf jeden Fall bewirkt auch hier die Butermilch-Glasmalerei einen gebremsten Ausblick, der aber gerade das Interesse, zu schauen, fördert. Die halb mit Buttermilch zugerollten Scheiben bieten sowohl die gewohnte Transparenz des Glases als auch die milchige Halbtransparenz, die nicht blick-, wohl aber lichtdurchlässig ist. Durch das Weiß gefiltert, tritt das Licht wie in einem Nebel umso sichtbarer in Erscheinung. Es fällt diffus in den Raum ein und charakterisiert diesen atmosphärisch neu. Unsere Sinne nehmen diesen Unterschied wahr.

 

Ebenso offenbart die Struktur der aufgerollten Buttermilchmalerei ihren ästhetischen Reiz im Spiel und Wandel des Tageslichts, nicht zuletzt in ihren verschiedenen Dichten, zum Beispiel dort, wo sich Milchbahnen kreuzen. Und lassen die milchigen Weißflächen nicht auch Erinnerungen an frühere Kindheitstage wach werden? An vereiste Fensterflächen, die man mit dem Finger gestaltete, oder an die dekorativen Strukturen der Eisblumen? Und dann kam der Frühling und der Zauber taute weg! Bald bleibt auch nur noch eine Erinnerung an das „Weiß für Pulheim“ zurück!

 

Gerhard Kolberg

 

(Eröffnungsrede zur gleichnamigen Ausstellung im Rathaus Pulheim, 18. Januar - 15. Februar 2004)